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Ringen um Versöhnung. Wechselwirkungen von Religion und Politik im Deutsch-Polnischen Verhältnis 1945-2010

Einleitung

Im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg spielten kirchliche Akteure eine wesentliche Rolle. Das christliche Verständnis von „Versöhnung“ wurde auf den politischen Sachverhalt eines internationalen Konflikts mit schwerwiegenden Folgen angewandt und überschritt damit die Domäne der Religion. Zugleich wirkten politische Faktoren auf die konkrete Umsetzung der Versöhnungsidee zurück. Die deutsch-polnische Versöhnung entfaltete sich also an der Schnittstelle der religiösen und der politischen Sphäre. Dieser Schnittstelle wandte sich ein interdisziplinäres Projekt des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz und des Instituts für Politologie der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität (UKSW) in Warschau zu. Anhand von einschlägigen Fallbeispielen untersuchten acht Forscherinnen und Forscher der evangelischen und katholischen Theologie, Geschichts- und Politikwissenschaft die komplexen Zusammenhänge zwischen Religion und Politik in diesem Versöhnungsprozess.

Fragestellung und Projektziele

Das Projektteam ging von der Voraus­setzung aus, dass sich die Bemühungen der kirchlichen Akteure in der BRD, der DDR und in Polen um Versöhnung nur durch eine Analyse der komplexen Zusammenhänge von Religion und Politik entschlüsseln lassen. Die gewählten vier Fallbeispiele repräsentierten zugleich unterschiedliche kommunikative Kontexte: die Messe in Kreisau am 12. November 1989 als symbolträchtiges Ereignis unter Beteiligung von Kirchenvertretern und Staatsoberhäuptern, die ökumenische Organisation „Aktion Sühnezeichen“, die Diskurse über deutsch-polnische Versöhnung in kirchlichen Schlüsseltexten und schließlich die europäische Dimension der deutsch-polnischen Verständigung in der Auffassung deutscher und polnischer Christen.

Das Projekt verfolgte drei Ziele: Erstens sollten das politische und religiöse Interessengeflecht und die sich daraus ergebenden Interessen- bzw. Loyalitätskonflikte bei den Akteuren der Versöhnungsbemühungen analysiert werden. Zweitens wollten dieProjektpartner die bilateralen deutsch-polnischen Versöhnungsbemühungen vor dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses betrachten. Drittens sollte ein methodisches Instrumentarium erarbeitet werden, das für wissenschaftliche Analysen des spezifischen Charakters von Versöhnung als Prozess an der Schnittstelle von Religion und Politik Anwendung finden könnte – auch außerhalb des deutsch-polnischen Kontextes.

Um die Interdisziplinarität in der Bearbeitung des Themas zu gewährleisten, wurden zwei Teams von jeweils drei, aus unterschiedlichen Fächern stammenden Wissenschaftlern gebildet, so dass sich folgende Konstellation ergab: Team I – Dr. Piotr Burgoński (Politikwissenschaft), Dr. Gregor Feindt (Geschichtswissenschaft), Dr. Bernhard Knorn SJ (Katholische Theologie); Team II – Dr. habil. Sławomir Sowiński (Politikwissenschaft), Dr. Christian Wollmann (Evangelische Theologie), Dr. Robert Żurek (Geschichtswissenschaft). Beide Teams, die unter der Leitung bzw. Koordination von Prof. Dr. Irene Dingel (Evangelische Theologie) und Dr. Urszula Pękala (Katholische Theologie) arbeiteten, untersuchten jeweils zwei Fallbeispiele. So konnten die Perspektiven aller drei an dem Projekt beteiligten Disziplinen zur Geltung kommen und in die Projektpublikation einfließen.

Das gesamte Projektteam traf sich zu drei Kolloquien, um die gemeinsame Arbeit zu strukturieren und inhaltlich zu diskutieren. In einem Einführungskolloquium im November 2014 in Mainz wurde auf Grundlage relevanter Begriffe und Fragen aus den beteiligten Disziplinen heraus ein theoretischer Rahmen erarbeitet, an dem sich die Untersuchung der Fallbeispiele orientierte. Im August 2015 fand ein „Meilensteinkolloquium“ in Warschau statt, das der Besprechung von Zwischen­ergebnissen diente. In einem Abschluss­kolloquium Anfang Juli 2016 – wieder in Mainz – wurden die Beiträge für die Projektpublikation und die übergreifenden Schlussfolgerungen aus den untersuchten Fallbeispielen diskutiert. Einen Höhepunkt stellte die dem Abschlusskolloquium vor­ausgehende internationale Tagung in Mainz im Juni 2016 dar. Im ersten Teil der Tagung wurden die Projektergebnisse vorgestellt. Die Referate des zweiten Teils reflektierten die Umsetzung von Versöhnung in anderen europäischen und außereuropäischen Kontexten. Eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion mit Erzbischof Alfons Nossol, Botschafter a.D. der Bundesrepublik Deutschland in Polen Johannes Bauch, Politologin Aniela Dylus und Moderator Jörg Lüer rundete die Tagung ab.

Erzielte Ergebnisse

Anhand der Fallbeispiele kamen die Forscherteams zu übergreifenden Schluss­folgerungen. In Bezug auf das Versöhnungskonzept konnten sie zeigen, dass Versöhnung nicht einfach als ein geradliniger Prozess zur Wiederherstellung einer zerbrochenen Beziehung gedeutet werden kann. Vielmehr entfaltete sich ein in vielerlei Hinsicht dynamischer Aushandlungsprozess. Die Hindernisse und Rückschläge, die diesen Weg begleiteten, zwangen dazu, Versöhnungs­initiativen stets neu zu vermitteln, zu legitimieren und dem jeweiligen Kontext neu anzupassen. Somit wurde um die deutsch-polnische Versöhnung im Laufe der Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes gerungen.

Hinsichtlich der Zusammenhänge von Religion und Politik stellte sich heraus, dass man im Falle der deutsch-polnischen Versöhnung nur schwer eine scharfe Trennlinie zwischen den beiden Sphären ziehen kann. Wenn sich kirchliche Akteure aus religiöser Überzeugung für die Aufarbeitung eines internationalen Konflikts engagierten, bewegten sie sich gleichzeitig in innerreligiösen und in politischen Kontexten.

In methodischer Hinsicht wurden unterschiedliche Ansätze erprobt, mit denen das Phänomen „Versöhnung“ im politischen Kontext wissenschaftlich erfasst werden kann. Am Fallbeispiel Kreisau wurde die Wirksamkeit öffentlicher, im religiösen Bezugsrahmen vollzogener Versöhnungsgesten dargestellt. Dazu griff das Forscherteam auf Paradigmen der symbolischen Kommunikation und die Rezeptionsgeschichte zurück. Der bio­graphische Zugang im Fallbeispiel Aktion Sühne­zeichen machte Versöhnung als religiös motiviertes, politisches Handeln nachvollziehbar. Mit der diskursanalytischen Untersuchung kirchlicher Schlüsseltexte zum deutsch-polnischen Verhältnis ließ sich Versöhnung als sprachlich konstruierte Wirklichkeit erfassen. Schließlich entstand ein synthetisierender Überblick über thematische Stränge im Denken ausgewählter evangelischer und katholischer Akteure der deutsch-polnischen Versöhnung. Der Bogen reichte von der Nachkriegszeit bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004. Dabei stellte sich heraus, dass diesem Prozess eine über den bilateralen Rahmen hinausgehende, allgemeineuropäische Dimension eigen war. Die interdisziplinäre Analyse der Fallbeispiele führte zu der Schlussfolgerung, dass nur eine Kombination aus vielfältigen Methoden der Komplexität von Versöhnung gerecht werden kann.

Verbreitung der Ergebnisse

Die Forschungen des Projektteams über die deutsch-polnische Versöhnung gewinnen angesichts der gegenwärtig aufkommenden Krise der europäischen Einheit an praktischer Relevanz: Sie zeigen diesen Prozess als wichtigen Schritt auf dem Weg zur Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg und zur europäischen Integration. Damit leistet das Projekt einen Beitrag zum besseren Verständnis für die Ursachen der Spannung zwischen vollzogener und immer noch ausstehender deutsch-polnischer Versöhnung. Es beleuchtet dabei aber auch allgemein die Heraus­forderungen und Schwierigkeiten von Versöhnung in politischen Kontexten.

Die Projektergebnisse sind in einem deutschsprachigen Sammelband niederlegt. Die Publikation besteht aus den vier Fallstudien und einer die Schlussfolgerungen bündelnden Einführung. Die polnische Ausgabe ist inzwischen ebenfalls erschienen. Als eine Erweiterung der Versöhnungsproblematik über den deutsch-polnischen Kontext hinaus wurden inzwischen ebenfalls die Beiträge des zweiten Teils der o.g. Tagung in einem weiteren Band veröffentlicht. Beide Publikationen richten sich sowohl an Wissenschaftler/innen als auch an Multiplikatoren der Versöhnungsarbeit und an die interessierte Öffentlichkeit. Aufgrund der interdisziplinären Arbeitsweise und der praktizierten Methodenvielfalt bieten die beiden Publikationen unterschiedliche „Werkzeuge“, mit denen die einzelnen Aspekte von Versöhnung erfasst werden können, und laden zur weiteren Diskussion über dieses stets aktuelle Thema ein.

Publikationen

Urszula Pękala, Irene Dingel (Hg.): Ringen um Versöhnung. Religion und Politik im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen seit 1945 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Beihefte 116), Göttingen 2018.

Urszula Pękala (Hg.): Ringen um Versöhnung II. Versöhnungsprozesse zwischen Religion, Politik und Gesellschaft (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Beihefte 117), Göttingen 2019.

Urszula Pękala, Irene Dingel: Zmagania o pojednanie. Religia
i polityka w stosunkach polsko-niemieckich po roku 1945. Elipsa, Warszawa 2020

Projektteam

Prof. Dr. Irene Dingel
Prof. Dr. Irene Dingel
Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte (IEG), Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Mainz

Dr. Piotr Burgoński
Dr. Piotr Burgoński
Institut für Politologie der Kardinal- Stefan-Wyszyński-Universität (UKSW), Warschau

Dr. Urszula Pękala
wissenschaftliche Mitarbeiterin, IEG, Abteilung für Abendländische Religions- geschichte, Mainz

Dr. Gregor Feindt
wissenschaftlicher Mitarbeiter, IEG, Abteilung für Universalgeschichte, Mainz

Dr. Bernhard Knorn SJ
Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt/M

Dr. habil. Sławomir Sowiński
Institut für Politologie an der UKSW, Warschau

Dr. Christian Wollmann
Pastor der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche in Norderstedt bei Hamburg (jetzt Direktor des Zentrums für Mission und Ökumene, Hamburg)

Dr. Robert Żurek
Geschäftsführender Vorstand der Stiftung „Kreisau“ für Europäische Verständigung, Kreisau

Veranstaltungen

29.-30. Juni 2016, Internationale öffentliche Tagung: Ringen um Versöhnung. Versöhnungsprozesse zwischen Religion, Politik und Gesellschaft, Mainz. In Kooperation mit der Akademie des Bistums Mainz ‚Erbacher Hof‘.

Workshops des Projektteams:
20.-21. November 2014, Mainz
27.-28. August 2015, Warschau
1. Juli 2016, Mainz

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