Die Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschland ist eine dynamische Beziehung, die im Spannungsfeld von Vergangenheit, Eigeninteresse und Europäischer Union aufgebaut wird. Dieses an sich konfliktgenerierende Geflecht bekommt in medialen Diskursen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte affektive Dimension, die bestimmte Prozesse der Inklusion, Exklusion oder Identitätsstiftung generiert bzw. dynamisiert. Das Ziel des Projekts «Emotionale Nachbarschaft. Affekte in deutsch-polnischen medialen Diskursen seit dem EU-Beitritt Polens» war es, die Aufmerksamkeit auf den diskursiven Charakter derartiger Prozesse in der massenmedialen Kommunikation (in der Presse) zu richten und damit die bisherigen linguistischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätze zur Erforschung von Affekten bzw. Emotionen als kommunikative Phänomene im (print)medialen Umfeld zu erweitern.
Das wissenschaftliche Ziel des Projekts war zu zeigen, auf welche Art und Weise Emotionen in deutschen und polnischen medialen Diskursen entstehen sowie diese Diskurse (mit)formieren, Akteure*innen beeinflussen und damit affektive Weltbilder kreieren, die dann verbreitet, reproduziert oder transformiert werden.
In der Analyse eines umfangreichen Korpus von Pressetexten zu sieben ausgewählten Medienereignissen von großer Relevanz für beide nationalen Gemeinschaften (der Nord Stream-Bau, die Fragen der Rechtstaatlichkeit und Flüchtlingspolitik in Polen, der Besuch von Angela Merkel in Auschwitz, die Frage der Vertriebenen, die LGBT-Thematik sowie die Debatte um den Film „Unsere Mütter, unsere Väter“) wurde der Frage nachgegangen, wie individuelle und kollektive Medienakteure mit verbalen und zum Teil nichtverbalen Mitteln spezifische Wirklichkeit(en) formen, die für die jeweilige Gruppe einen gemeinsamen Deutungshorizont bilden können.
In diesem Zusammenhang war es relevant zu untersuchen,
In der analytischen Praxis wurde interpretativ vorgegangen. Die Sprache stand dabei im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, denn sie ist das primäre Medium der Wissenskonstruktion und der diskursiven Herstellung von Emotionen, auch zusammenwirkend mit anderen Zeichensystemen.
Medien-, kommunikations- und sprachwissenschaftliche Diskursanalyse sowie semiotisch fundierte Emotionsforschung bildeten die theoretisch-methodischen Grundlagen. Wegen der empirischen Fundierung unserer Forschung war auch der Einsatz eines zweiteiligen (deutsch- und polnischsprachigen) Untersuchungskorpus erforderlich, das sich aus über 1700 pressemedialen Realisierungen von thematisch zusammenhängenden Texten und Text-Bild-Kommunikaten der unterschiedlichen Kommunikations- und vor allem Journalismuskulturen in Polen und Deutschland zusammensetzte.
Zur Analyse von Emotionen wurde ein Mehr-Ebenen-Modell erarbeitet, in dem zwischen zwei Hauptebenen der Beschreibung differenziert wird: der realen nicht-medialen (außermedialen) Ebene und der medialen Ebene, die vier Unterebenen umfasst: die Ebene der Medialität, die Ebene der medialen Akteure (Diskursakteure), die intratextuelle Ebene (Ebene der Kodierung von Affekten) und die transtextuelle Ebene (Ebene der Manifestation bzw. Generierung von Affekten). Bei der nichtmedialen Ebene handelt es sich um die Beschreibung der „vormedialen“ Realität (Realwelt-Ereignisse) mit Hilfe solcher Parameter wie Zeit (Zeitabschnitt), gesellschaftliche Akteure, topographische Aspekte und politische bzw. wirtschaftliche Relevanz. Bei der medialen Ebene dagegen geht es um die Ebene der medial konstruierten und vermittelten diskursiven Ereignisse.
Affekte als diskursive, medial konstruierte Phänomene sind Ergebnisse intendierter Handlungen und können strategisch eingesetzt werden. Sie sind demnach als Gegenstand rationaler Entscheidungen anzusehen: Es ist von großer Relevanz, welche Mittel (verbale und ikonische Zeichen) und Strategien eingesetzt werden, um eine (neue) affektive Gemeinschaft zu bilden bzw. das Funktionieren einer bereits existierenden Community zu modulieren.
Die durchgeführten Analysen haben die in thematisch strukturierten Datenmengen – Texten bzw. Textausschnitten pressemedialer Diskurse in Deutschland und Polen – manifeste und vor allem latent vorhandene Emotionen sichtbar gemacht und bestimmten Kategorien zugeordnet. Im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und Strategien der Emotionalisierung wurden bestimmte erkennbare Merkmale deutscher und polnischer Diskurse im pressemedialen Bereich festgestellt: Die Analyse hat ergeben, dass in polnischen medialen Diskursen die Emotionen ‚Angst‘ und ‚Empörung‘ bzw. ‚Wut/Zorn‘ dominieren. Dort werden bestimmte Strategien bzw. Muster der öffentlichen Konstruktion von Emotionen eingesetzt, die den sog. Argumentationstopoi analog sind. In den analysierten Fällen kann vom Topos des Deutschen als ewigen Feindes/ewiger Bedrohung die Rede sein. Der Topos lässt sich aus dem aktuellen Kontext (der Nord Stream-Bau, die enge Kooperation zwischen Deutschland und Russland oder unberechtigte Interpretation der Geschichte) ableiten, in dem die augenblickliche Lage Polens als gefährlich oder ungerecht angesehen wird. Der Einsatz von historischen Analogien zum Emotionalisieren ist für die polnischen Mediendiskurse spezifisch: Historische Vergleiche beziehen sich vordergründig auf das im polnischen historischen und politischen Denken präsente Erfahrungsmuster ‚Geopolitischer Fluch‘.
Im Fall der analysierten Medienereignisse und Korpusdaten kann angenommen werden, dass Emotionen (vor allem die negativen) in der polnischen Presse vor allem zur Stabilisierung oder Verfestigung der polnischen Wir-Identität und Legitimierung polnischer Interessen, zur Mobilisierung der eigenen Gemeinschaft sowie zur (moralischen) Abwertung (oder Delegitimierung) jeglicher Aktivitäten des deutschen Widersachers diskursiv eingesetzt wurden.
Die Analyse von Daten aus dem deutschsprachigen Subkorpus hat ergeben, dass die medialen Diskurse in Deutschland eher durch das Paradigma der affektiven Neutralität der Informationsvermittlung in deliberativen Demokratien geprägt zu sein scheinen. Medial konstruierte Emotionen in deutschen Diskursen sind deutlich impliziter und vorwiegend von anderer Wertigkeit sowie deutlich geringerer Intensität. Es kann angenommen werden, dass diese Differenzen in unterschiedlichen medialen und gesellschaftspolitischen Emotionskulturen in Deutschland und Polen ihre Wurzeln haben. Im Gegensatz zu vorwiegend „unterkühlten“ Mediendiskursen in Deutschland werden konträre Positionen in der polnischen Presse in deutlich emotionaler Weise konstruiert. In der Sphäre der medial und diskursiv konstruierten Emotionen herrschen asymmetrische Relationen zwischen Deutschland und Polen.
Die Ergebnisse des Projekts können als Grundlagen und Impulse für die Vorbereitung einer diskursiv realisierten „Politik der Affekte“ im Sinne einer Politik positiver (kooperationsfördernder) Emotionen, angesehen werden. Um einen Nährboden für eine nachhaltige und konstruktive partnerschaftliche Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen – zwei EU-Mitgliedstaaten – vorbereiten zu können, reicht es nicht aus, nur auf der Ebene einer realistischen Interessenpolitik zu agieren. Man braucht auch Emotionen.
* Die Texte und Fotos wurden vom Projektteam zur Verfügung gestellt.
Universität Bayreuth
Kazimierz Wielki-Universität in Bydgoszcz
01.10.2019-30.09.2023
300.000 Euro
Prof. Dr. Gesine Lenore Schiewer
Universität Bayreuth
Prof. Dr. Jacek Szczepaniak
Kazimierz Wielki-Universität in Bydgoszcz
Dr. Janusz Pociask
Kazimierz Wielki-Universität in Bydgoszcz
Dr. Jarosław Bogacki
Universität Bayreuth
Mag. Sławomir Kowalewski
Kazimierz Wielki-Universität in Bydgoszcz
Teilnahme an der internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Von der Versöhnung zur Alltäglichkeit? 30 Jahre deutsch-polnische Nachbarschaft“, Debatte: Deutsch-polnische Kommunikation – Chance und Herausforderung für die gegenseitigen Beziehungen, Warschau, 18. Juni 2021 (Jacek Szczepaniak)
Internationale wissenschaftliche Tagung „Via Scientiarum“ (23.-24. September 2021, Liepāja/Lettland – online)
Referat: Diskurslinguistische Analyse von Emotionen am Beispiel der polnischen und deutschen Boulevardpresse (Sławomir Kowalewski)
Internationale wissenschaftliche Konferenz „Diskurs – multimodal“, 18.-19. November 2021 (Bremen – online)
Referat: Emotionen als multimodale Konstrukte in medialen Diskursen (Jacek Szczepaniak)
Wissenschaftliche Konferenz „Dyskursy pamięci. Praktyki, nośniki, media”, 08.-10. Juni 2022 (Katowice),
Referate: Pamięć i emocje w polsko-niemieckim dyskursie prasowym / dt. Titel: Erinnerung und Emotionen im deutsch-polnischen Pressediskurs (Jarosław Bogacki)
Internationale wissenschaftliche Tagung „Metaphorische Kollokationen – von der Theorie zur Praxis“, 22.-23. September 2022 (Dubrovnik). Referat: Metaphorische Kollokationen und Idiome im Dienste der Emotionalisierung von Diskursen (Janusz Pociask)
Organisation der projektbezogenen, internationalen wissenschaftlichen Tagung „Emotionen – Medien – Diskurse. Interdisziplinäre Zugänge zur Emotionsforschung“, 26.-27. Mai 2022 (Bydgoszcz).
Referate:
- Zur sprachlichen und bildlichen Konstituierung von Agonalität im Diskurs (Janusz Pociask)
-Die Emotionalisierung des Emotionalen. Der Ukraine-Krieg im deutschen Pressediskurs aus emotionslinguistischer Perspektive (Jarosław Bogacki)
Tagung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik „Jenseits der Deiche. Konflikte der Abgrenzung“, 14.-17. Juni 2023 (Utrecht). Referat: Affektive Deiche zwischen Deutschland und Polen. Zu negativen Emotionen in polnischen Printmedien aus diskurslinguistischer Sicht (Jacek Szczepaniak)